- Ausgabe: Schwabe Magazin, Augabe 2, 2011
Schaffen Soziale Netzwerke neue gesellschaftliche Strukturen oder bildet Social Media bestehende Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft nur digital ab?
Ein Gespräch mit dem Soziologen Dirk Baecker
Herr Prof. Baecker, zum Einstieg zunächst einmal eine Frage zum allgemeinen Begriffsverständnis. Es scheint auf den ersten Blick offensichtlich, warum Netzgemeinschaften «Soziale Netzwerke» genannt werden. Es sind Plattformen, um Kontakte zu knüpfen, zu vertiefen oder lose zu halten. Die hohe Verbreitung dieser Dienste im Internet drängt nun den gängigen Begriff, wie wir ihn beispielsweise aus der Betriebswirtschaftslehre kennen, in den Hintergrund und suggeriert sogar, dass es sich um ein völlig neues Phänomen handle. Dabei beruhen andere soziale Verbindungen, Gruppierungen, Vereine, Mittagstische, Familien, Seilschaften etc. in den Grundzügen doch auf ganz ähnlichen Mustern.
Was halten Sie als Soziologe vom Begriff «Soziale Netzwerke»? Heben die neuen Möglichkeiten von Netzgemeinschaften wie «Facebook» oder «Myspace» die bestehenden Formen sozialer Gemeinschaften womöglich auf oder handelt es sich lediglich um althergebrachte Muster, die in neuem Gewand daherkommen?
Lassen Sie mich zunächst auf Ihre Frage nach der Begriffsbestimmung eingehen. Es gibt mindestens vier verschiedene Begriffe des Netzwerks, einen technischen, einen betriebswirtschaftlichen, einen soziologischen und einen umgangssprachlichen. Der technische Begriff beschreibt elektronische Verknüpfungen zwischen Apparaten, die mit bestimmten Freiheitsgraden ausgestattet sind, die es ihnen erlauben, an bestimmten Parametern orientierte Verbindungen zu wählen. Hier steht das Netzwerk im Gegensatz zu einer Maschine oder einem Automaten, die meist durch feste kausale Verbindungen ohne Freiheitsgrade gekennzeichnet sind.
«Social Media sind eine Art Schnellkurs und Grundkurs in Soziologie, ohne dass man von diesem Fach und von dem, was man tut, irgendeine Vorstellung haben muss.»
Der betriebswirtschaftliche Begriff ist meines Wissens vom technischen Begriff abgeleitet und beschreibt Unternehmen, die untereinander zu einem Lieferanten/Produzenten-Netzwerk verknüpft sind, das häufig von einem Unternehmen an einem bestimmten Punkt der Wertschöpfungskette, Jörg Sydow spricht in diesem Zusammenhang vom «fokalen Unternehmen», gesteuert wird. Hier steht das Netzwerk im Gegensatz zu einem eher als anonym vorgestellten freien Markt.
Der soziologische Begriff stammt aus der Topologie und mathematischen Gruppentheorie und unterscheidet sich vom betriebswirtschaftlichen Begriff dadurch, dass er ähnlich wie der technische Begriff Verknüpfungen nicht nur zwischen homogenen, sondern auch heterogenen Elementen zulässt. So kann ein Netzwerk Personen, Organisationen, Praktiken, Geschichten und Lokalitäten miteinander verbinden. Der Soziologe Harrison C. White von der Columbia University in New York hat diesen Begriff 1992 in seinem Buch «Identity and Control» sehr raffiniert ausgearbeitet. Die zentrale Idee ist hier, dass jedes Element seine Identität aus den Beziehungen gewinnt, in denen es sich im Netzwerk bewegt. Die Elemente werden so voneinander abhängig und versuchen, sowohl die eigene Identität als auch die Identität der anderen zu «kontrollieren», um das Netzwerk und damit sich selbst zu erhalten. Je nach Netzwerk gibt es hier unterschiedlich grosse Zahlen von Freiheitsgraden.
Die umgangssprachlich sogenannten Sozialen Netzwerke beziehungsweise Social Media, unser vierter Begriff, haben mit all dem natürlich etwas zu tun. Sie setzen wählbare technische Verbindungen voraus. Man kann online oder offline sein und sowohl online als auch offline unterschiedliche Verbindungen eingehen. Man kann ähnlich wie in der Betriebswirtschaftlehre erkennen, dass es fokale Personen gibt, «stars», die mehr Freunde und «Follower» auf sich versammeln als andere, gleichzeitig aber auch eine Orientierung innerhalb des Netzwerks leisten. Diese Social Media sind eine Art Schnellkurs und Grundkurs in Soziologie, ohne dass man von diesem Fach und von dem, was man tut, irgendeine Vorstellung haben muss. Man braucht nur ein Profil anzulegen und abzuwarten, welche Freunde sich melden und welche Freunde diese Freunde wiederum mitbringen. Man bekommt hautnah mit, dass man selbst etwas darstellen muss, damit Freunde sich interessieren, und dass die Pflege des eigenen Profils alles andere als gleichgültig ist. Jedes Hobby, jedes Foto, jede Veranstaltung, die man dort einstellt, macht einen Unterschied. Und nicht zuletzt lernt man am eigenen Leib, was es bedeutet, sich in einem Netzwerk zu bewegen: Es heisst, sich und dem anderen die Chance zu geben, einen Kontakt abzubrechen und stattdessen einen Kontakt zu pflegen, der durch den gerade abgebrochenen Kontakt überhaupt erst möglich wurde. Deswegen ist für Harrison C. White der Begriff des «switch», des Wechsels der Verbindung, der wichtigste Grundbegriff eines Netzwerks.
Aber haben Netzwerke im Digitalzeitalter nicht auch ganz andere Auswirkungen auf die Kommunikation und das Verhalten untereinander, als es in herkömmlichen sozialen Gemeinschaften der Fall war?
Wo früher neben physischen Zusammenkünften zunächst nur der Briefwechsel, später das Telefon zur Verfügung standen, um soziale Kontakte auch über grössere Distanz zu pflegen, bieten Webdienste heute Kommunikationsmöglichkeiten, in denen die Faktoren Distanz und Zeit keine Rolle mehr spielen. Zudem war der Austausch zumeist auf einen Absender und einen Empfänger pro Zeiteinheit begrenzt, Serienbriefe und Telefon- bzw. Videokonferenzen einmal ausgenommen. Wenn sich nun Distanz, Zeit und Empfängerkreis zum gleichzeitigen Informationsaustausch vieler mit vielen in Echtzeit, also zur Simultaneität, verdichten, werden dann die einzelnen sozialen Kontakte durch die Pflicht der Unmittelbarkeit nicht zwangsläufig loser, führt das nicht zu einem inhalt- lichen Verlust, zur Verflachung von Bindungen? Seit der Einführung der Elektrizität und damit des Telegrafen und des Telefons ist der Aspekt der «Instantaneität», der Augenblicklichkeit jeder Verknüpfung, das grosse Thema der medialen Verknüpfung der Gesellschaft. Bereits für Marshall McLuhan («Die magischen Kanäle», dt. 1968) war das der Schlüssel zum globalen Dorf und zum Abschied von der Gutenberg-Galaxie des Buchdrucks. Die vormals «moderne Gesellschaft», die wir in ihrer vom Buchdruck getriebenen Dynamik jetzt erst allmählich zu verstehen beginnen, reicht vom Beginn des 16. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Seither jedoch leben wir im «Zeitalter der Nervosität» (Hugo von Hofmannsthal, siehe auch das gleichnamige Buch von Joachim Radkau), in dem uns jede denkbare Information zu jedem denkbaren Zeitpunkt von jedem denkbaren Ort der Erde her erreichen kann. Kein Geschäft, keine Politik, keine Bildung, keine Wissenschaft, keine Liebe kann davor schützen. Jede soziale Beziehung steht, so hat das der Soziologe Niklas Luhmann einmal ausgedrückt, in einem Welthorizont, das heisst in einem Horizont weiterer Möglichkeiten, für die nur die Welt insgesamt der Rahmen ist. Das gilt für Chancen, Gelegenheiten und Faszinationen ebenso wie für Unfälle, Katastrophen und Krisen.
Die entscheidende Frage der aktuellen Gesellschaft, die Peter Drucker nach der modernen Gesellschaft auf den Namen der «nächsten Gesellschaft» getauft hat, ist daher, wie wir mit dieser Verdichtung und Bedrängung umgehen. Soziologen beobachten, wie wir vor allem in den anspruchsvollsten sozialen Beziehungen, etwa in einer Krankheitsdiagnose, im Börsenhandel, in der Forschung, aber auch in der schulischen Erziehung und in politischen Entscheidungen, immer wieder neu versuchen, innerhalb irreversibler Prozesse reversible Entscheidungen zu treffen. Das ist natürlich ein Stück weit paradox. Aber es geht nicht anders. Gerade weil wir es nicht mehr mit der mechanischen Welt Newtons zu tun haben, in der alle Prozesse im Prinzip rückgängig gemacht werden konnten, sondern mit der historischen Welt Hegels, Darwins und Bergsons, in der nichts rückgängig gemacht werden kann, versuchen wir mit ganz kleinen und korrigierbaren Entscheidungen herauszufinden, worauf wir uns jeweils einlassen. Damit steigt allerdings der Zeitdruck, weil alle laufend irgendwelche kleinen Entscheidungen treffen und die Welt deshalb in jedem Moment nicht mehr dieselbe ist wie diejenige des Moments zuvor. Aber anders geht es nicht, und mit Techniken der Meditation, auch einer bestimmten Religiosität oder mit hausgemachter «Wellness» gelingt es uns nach wie vor nicht schlecht, damit fertig zu werden. Natürlich muss man jedoch auch den steigenden Tablettenkonsum und Gebrauch von «Alltagsdrogen» wie Tabak und Alkohol in diesem Zusammenhang sehen. Mit ihrer Hilfe schaffen wir es einigermassen, ein seelisches Gleichgewicht zu halten.
Die Kontakte, die wir in diesem Zusammenhang pflegen, müssen sich kleinformatigen Zeiteinheiten unterordnen. Es geht eher um häufige und tendenziell belanglose, aber nach Belieben vertiefbare Beziehungen als um die Pflege langjähriger und im Ergebnis wechselseitig einschränkender Freundschaften.
«Ich glaube, dass wir im Moment mit den Sozialen Netzwerken spielen und experimentieren. Wir füttern sie mit Belanglosigkeiten, merken, dass uns das Spass macht.»
Andersherum gefragt: Social Media bietet Plattformen, die den Nutzern die simultane Kommunikation in der dar- gestellten Weise ermöglichen. Bedient die Technologie damit ein allgemeines Bedürfnis oder hat sie den Bedarf überhaupt erst geschaffen? Und wie sieht dieser Bedarf denn aus? Während beispielsweise in Japan die Erde bebt bzw. das Ausmass der Zerstörung sichtbar wird, finden sich in Facebook und Co. weiterhin vor allem Meldungen sehr persönlicher Art, die kaum auf die Ereignisse in der Welt Bezug nehmen. Es scheint doch, dass Soziale Netzwerke in erster Linie Selbstdarstellungsplattformen mit dem Charakter von «öffentlichen Tagebüchern» sind. Dabei bietet Social Media doch ein ungeheures Potential, sich gesellschaftlich und politisch zu engagieren, wie wir gerade in den arabischen Ländern beobachten können. Ist dieser private Drang zur Öffentlichkeit, die dem Indi- viduum noch nie in solch umfassender Form zugänglich war, gar die Motivation überhaupt, sich in sozialen Netzwerken zu bewegen?
Ich glaube, dass wir im Moment mit den Sozialen Netzwerken spielen und experimentieren. Wir füttern sie mit Belanglosigkeiten, merken, dass uns das Spass macht und dass wir auch für uns selbst in unseren Selbstdarstellungen deutlicher und erkennbarer werden als je zuvor. Wir trainieren auf diese Art und Weise unser Rollen- verhalten in der Welt. Einer der auffälligsten Effekte dabei ist sicherlich, dass es keinerlei Autoritäten gibt, auf die wir Rücksicht nehmen müssen. Die Sozialen Netzwerke sind nicht nur wie ein grosser Schulhof in der Pause, den die Lehrer schon lange nicht mehr betreten, sondern wie ein riesiger Spielplatz, auf dem es überhaupt keine Lehrer und auch keine andere Aufsicht gibt. Das haben viele Menschen zuvor noch nie erlebt. Der grösste Freiheitsraum, den wir bisher kannten, war das einsame und stille Lesen in Büchern. Das war folgenreich genug, hat es uns doch mit unserem eigenen Bewusstsein bekannt gemacht und so etwas wie die Möglichkeit zur eigenen Meinung und zur Kritik der Meinungen anderer geschult. Aber jetzt erlebt man, dass man seine Interessen, seine Partys, seine Begegnungen nach Lust und Laune im Netz vorbereiten und erproben kann. Man sammelt Erfahrungen der Vernetzung, die es fraglich werden lassen, wozu man Autoritäten pädagogischer und politischer Art über- haupt braucht. Natürlich treten neue Autoritäten auf, religiöse und ideologische zum Beispiel, die diese freie Wählbarkeit der Kontakte im Netz auszunutzen verstehen, aber die sind zum Teil auch ebenso schnell wieder verschwunden.
Die bereitwillige Preisgabe von Persönlichem lässt den Schluss zu, dass es nicht wenigen Nutzern gleichgültig zu sein scheint, wer ihre Botschaften schlussendlich konsumiert. Das Mitteilungsbedürfnis steht vor der Überlegung nach der Mitteilungsadressierung. Wird das Bewusst- sein des Privaten durch die vermeintliche Anonymität des Computers in den Hintergrund gedrängt? Wohin führt diese Entwicklung für das Individuum und für die Gesellschaft?
Den wenigsten Nutzern scheint klar zu sein, welche Datenspuren sie im Netz auf unabsehbare Zeit hinterlassen. Ich glaube allerdings, dass für dieses mangelnde Bewusstsein weniger die Anonymität des Computers als vielmehr die Autorität der Netzwerke selbst verantwortlich ist. Man bewundert die technischen Finessen, die Google, Facebook, Twitter und anderen Programmen zugrunde liegen, und denkt sich, dass dahinter keine schlechten Menschen stecken können. Wenn man so will, werden wir die Opfer unseres eigenen Technikvertrauens. Wie bereits gesagt, sind Soziale Netzwerke die Schule und der Schulhof der nächsten Gesellschaft. Jeder kann hier ausprobieren, was alle beschäftigt. Und jeder kann das Netz mit eigenen kleinen oder grossen Aktionen reizen und sehen, was daraufhin passiert. Da werden wir im Laufe der nächsten ein, zwei Jahrzehnte sicherlich noch mehr Übung bekommen und mit noch mehr Computern an unerwarteten Stellen unseres Lebens konfrontiert werden. Für Soziologen ist faszinierend, dass sich das institutionelle Gefüge der modernen Gesellschaft mit seinem Vertrauen auf die Vernunft – trotz aller Katastrophen – grundlegend verschiebt und man überhaupt nicht absehen kann, wohin die Reise führt. Viele Beobachter, etwa Marshall McLuhan und in jüngerer Zeit Manuel Castells, haben das gemerkt. Aber kaum jemand hat so klug reagiert wie Niklas Luhmann, der sich angesichts dieses Wegs in die Computergesellschaft nicht etwa mit Prognosen befasst hat, die sowieso unmöglich sind, da die Zukunft unbekannt ist, sondern mit der Frage, in welchem institutionellen Rahmen die moderne Gesellschaft ihre jeweiligen Lösungen gefunden hat (siehe vor allem sein Buch «Die Gesellschaft der Gesellschaft», 1997). Denn für alle jetzigen Lösungen muss die nächste Gesellschaft wiederum neue Lösungen finden. Können wir uns weiterhin darauf verlassen, dass Marktwirtschaft und Demokratie, experimentelle Wissenschaft und seelentröstende Religion, passionierte Liebe und autonome Kunst die Antwort auf die Fragen sind, die wir jetzt wieder neu zu stellen lernen müssen?
Dieses Gespräch ist die gekürzte Fassung einer E-Mail-Korres- pondenz, die Michael Düblin, Informatikleiter der Schwabe AG, mit Dirk Baecker geführt hat.
Der Soziologe Prof. Dr. rer. soc. Dirk Baecker ist Lehrstuhlinhaber für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin University (ZU) in Friedrichs- hafen. 2008 kürte ihn das Magazin «Cicero» zu einem der 25 wichtigsten Geisteswissenschaftler in Deutschland.