Für den revolutionären Ungehorsam
Wie ist Deine Beziehung zu Kurdistan, Deiner Heimat, und der Schweiz, wo Du momentan lebst?
Das ist ein zweischneidiges Schwert. Die Frage stellt sich auf traditioneller Ebene, die sich auf Jahrtausende hinaus erstreckt und die man auch ins fremde Land mitschleppt. Da sind die Schranken und die Fesseln, die man als traditionelle Scheuklappen anzusehen hat. Bei uns unten in Kurdistan bemerkt man es nicht, weil man in einer gewohnten Umgebung lebt und jeder Schritt vertraut ist.
Die Schranken hier sind jedoch nicht völlig anders als da unten. Hier sind sie auch nicht beseitigt worden, eher reformiert. Die Schranken bei uns sind eher roh, noch nicht so geschliffen wie hier.
Es sind zwei verschiedene Welten, die wir nicht miteinander vergleichen können. Die Welt hier in der Schweiz tritt in einer polierten Form auf. Es herrschen Normen hier, die sich klassisch entwickelt haben, die Beziehungen, denen wir hier im Exil verpflichtet sind, sind eher künstliche Beziehungen. Wir haben diese Entwicklung gar nicht durchgemacht, weder in der Schule, noch in der Familie, noch im Leben. Die werden uns einfach aufgezwungen. Wir müssen mühselig den Vorschriften, die diese konkreten Beziehungen zum Ausdruck bringen, gehorchen. Wer sich darin nicht auskennt, hat jahrelangen psychischen Druck zu erdulden.
Wir sehen ja die Hilflosigkeit der Ausländer hier. Das sind eben meine Aufgaben, dass ich in psychologischer und soziologischer Hinsicht die Normen auseinandernehme und darauf hinweise, dass wir hier in derselben Welt leben. Wir haben diese Entwicklung nicht mitgemacht, daher sind uns die Verhältnisse fremd.
Ist das nicht das Schicksal eines jeden «Fremden»?
Nein, nicht unbedingt. Wenn ein Europäer – ein Franzose oder Engländer – nach Indien geht, oder die Amis nach dem Libanon oder Paraguay, dann bestimmen sie, als Fremde, die Schlagader der Beziehungen. Wie viele afrikanische und asiatische Länder sind unter diesem Fragezeichen zur Unabhängigkeit gelangt! Noch immer gelten die wirtschaftlichen und kulturellen Gebote, welche ihnen vom sogenannten «Mutterland» aufgezwungen wurden. Zimbabwe ist ein heisses Beispiel, sie haben keine einheimische Sprache mehr – sie sprechen Englisch. So auch in Algerien: da spricht man eben in den Lehranstalten Französisch. Wenn sich die Europäer oder die Amerikaner oder Russen in die inneren Beziehungen eines Landes einmischen, dann gehen sie nicht mit einem Koffer voller «Fremdheit» dorthin, sondern mit dem Bewusstsein, dass sie dort als «Herrscher» akzeptiert werden. Bei uns läuft es gerade umgekehrt. Wir sind diesen Kolonialgefühlen ausgesetzt! Man spürt das im Alltag. Wenn ich mit meiner dunklen Hautfarbe – und es ist längst mich mehr das Exotische, das ist überwunden – in ein Lokal gehe, dann ist dieses Kolonialgefühl als Rassismus zu erkennen.
Warum bist Du in die Schweiz gekommen?
Es gibt verschiedene Arten von «Kommen». Es gibt Ausländer, die als billige Arbeitskräfte hergebracht werden, vor allem geschah das während den Aufbauzeiten nach dem zweiten Weltkrieg. Das waren Italiener in der Schweiz, Türken in Deutschland, Jugoslawen in Österreich, Pakistani in England, Araber in Frankreich. Dies ist das eine «Kommen», das rein wirtschaftliche Vorteile mit sich bringt. Nie würden die Schweizer oder andere Europäer bis zu den Ellbogen in die Scheisse reingreifen.
Die Arbeit wird von «drittklassigen» Ausländern (es sind Tamilen-Türken-Kurden-Südamerikaner etc.) geleistet und ist meist lang und hart – im Gastgewerbe bis zu 55 Stunden in der Woche. Die ehemaligen Stimmungsmacher, die die Scharen in den 70er Jahren gegen die Italiener zur Urne trieben, setzen heute abermals das Feuer in den ausgetrockneten Stall des zu kurz gekommenen Bürgers.
Das Verhalten der jetzigen Urnengänger den «neuen» Ausländern gegenüber ist arrogant und mit einer guten Portion von «Besserwissen» gewürzt: «Du kommst ja doch nicht draus» oder einfach «du Araber», was schon alles sagen soll. Du kannst Südamerikaner, Kurde oder Inder sein, heute bist du einfach «Araber», Terrorist und Wegwerfartikel; raus mit dir!
Diese Stimmung sitzt hier in der Schweiz tiefer, der Stand des Rassismus ist zermürbender als in Deutschland.
Vor allem werden jene Ausländer und Ausländerinnen unter Beschuss genommen, die sich gegen das unmenschliche Leben in ihrer Heimat stellen.
Das Leben geht hier im Ausland weiter. Mein Leben geht insofern weiter, da ich mich nicht nur mit meiner politischen Präsenz, sondern auch mit dem Schreiben weiterkämpfe. Das ist für mich eine andere Front. Das Schreiben ist ein Vermächtnis. Sobald etwas publik gemacht wird, bezieht man eine Position. Mit dem Schreiben strebe ich zwei Ziele an: erstens, mich aus der Resignation – die unter den hiesigen Kurden herrscht – herausausschreiben und mich am Befreiungskampf meines Volkes zu beteiligen. Ich räume mir eine grosse Welt für meine Arbeit im Ausland ein, denn ich sehe, dass unter einer Million im Ausland herumirrender Kurden nicht einmal tausend schreiben können – und wollen. Politische Publikationen über Kurdistan gibt es massenweise, es existieren mehr als dreissig verschiedene Gruppierungen und Organisationen: die werfen sich jedoch gegenseitig Knüppel zwischen die Beine. Literarisch wird nichts bewertet. Wenn du es wagst, gehörst du zu den wenigen und bist abgestempelt, ein Abtrünniger …
Und warum meinst Du, ist das so?
Ich habe eine langjährige politische Aktivität hinter mir. Mit 14 bin ich ins aktive Leben eingestiegen. Da habe ich begonnen, mich politisch zu engagieren. Seither sind 20 Jahre vergangen. In diesen Jahren habe ich vieles erlebt. Für mich ist diese Entwicklung eine Errungenschaft unserer Urahnen, und eurer Urahnen auch, eine grosse geistige Erkenntnis, die ich achte. Meiner Meinung nach ist es eine grosse Undankbarkeit, wenn wir diese erkämpften Errungenschaften vernachlässigen oder übersehen. Für jeden Zentimeter Freiheit hier sind Menschen gefallen oder an die Wand gestellt worden. Hier herrscht eine labile Haltung der Menschen in Bezug auf eine Rückbesinnung. Das ist für mich einfach nicht duldbar. Ich beginne darüber nachzudenken, warum wir heute Zeuge der Ohnmacht in Europa sind, wo das Proletariat in dieser Zeitspanne der Hochindustrialisierung einfach Mitläufer des Bürgertums geworden ist. Blick- und Bild-Leser, die nicht einmal ihre eigenen Gewerkschaftszeitungen interessiert.
Hinzu kommt der grösste Feind: der Dogmatismus. Ein harter Knochen, den wir noch nicht gebrochen und aufgerieben haben. Es besteht für mich eine Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis. Und in dieser Beziehung kritisiere ich die Linke genauso wie die Rechte, obwohl keiner kritisiert werden mag… aber es muss sein.
Publiziert in ON THE ROAD Nr. 6, 1986, S. 16