- Verlag: Schwabe Verlag
- Ausgabe: Gut zum Druck!, Basel 2013, S. 380-385
- ISBN: 978-3-7965-2917-7
Von der Satzautomation zum E-Publishing
Doch selbst der Schwabe Verlag wird sein zweites halbes Jahrtausend nicht allein mit den geistigen Schätzen bestehen können, die er während der ersten 500 Jahre angesammelt hat.» Mit dieser Einschätzung zur Zukunft der Druck- und Verlagsbranche, die Otto Stich Schwabe 1988 in seiner Rede zum 500-Jahr-Jubiläum der Firma mit auf den Weg gab, bewies der damalige Bundespräsident Weitsicht. Was sich in den vergangenen 25 Jahren auf dem Gebiet der Wissensvermittlung und der Kommunikation verändert hat, bestätigt seine Prognose: Die Medienbranche hat sich in dieser kurzen Zeit revolutioniert, digitale Dienste lösen die althergebrachten analogen Medien mehr und mehr ab. Über 550 Jahre sind seit Johannes Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks vergangen. War in den ersten fünf Jahrhunderten die drucktechnische Vervielfältigung das einzige Massenmedium zur schriftlichen Wissensverbreitung, so stellen die Möglichkeiten der digitalen Informationstechnologie die Gesellschaft heute vor Herausforderungen, die zu einem weit grösseren Umbruch führen könnten, als die Einführung des Buchdrucks damals bewirkt hat.
Das Buch als Massenmedium am Beginn der Neuzeit
Die europäische Gesellschaft des 15. Jahrhunderts stand beim Übergang in die Neuzeit an einer Schwelle, die von spürbaren Veränderungen geprägt war. Noch war die Welt geografisch und geistig zu erkunden und die Sehnsucht nach Wissen allgegenwärtig; neue Erdteile wurden entdeckt und besiedelt. In dem 1492 geschaffenen Erdglobus von Martin Behaim manifestierte sich dieser Drang nach neuer «Welterkenntnis». Wenn wir Gutenbergs Erfindung in diesem Umfeld betrachten, verstehen wir deren epochale Wirkung. Die Grenzen der Welt wurden neu gezogen, man spürte, dass das bisherige Wissen nicht ausreichte, um die neuen Erkenntnisse einzuordnen. Die Erfindung einer effizienten Vervielfältigungstechnik zur Vermehrung und Verbreitung von Wissen lag förmlich in der Luft.
Das Internet revolutioniert die Medienwelt erneut
Heute steht die Medienbranche erneut vor bahnbrechenden Entwicklungen. Szenarien wie das vom Ende des Buchdrucks sind noch nicht gänzlich in unseren Köpfen angekommen, noch prägt uns die Vorstellung vom Buch als Leitmedium der letzten 500 Jahre. Wenn wir uns aber alleine die letzten 25 Jahre der Mediengeschichte vor Augen führen, können wir kaum voraussehen, was uns das kommende Vierteljahrhundert bringen wird.
Heute ist die Computertechnologie in der Buchproduktion so selbstverständlich wie in allen Bereichen unseres Lebens. Die Buchherstellung erfolgt über weite Teile digital: Im Offsetdruck ist nur noch der Druckprozess ab Platte analog, im Digitaldruck einzig noch das Endprodukt – und beim E-Book nicht einmal mehr dieses.
Im Nachhinein erscheint die Entwicklung so zwangsläufig und zielgerichtet, wie alle Entwicklungen wirken, wenn man sie vom Endpunkt aus rückwärts betrachtet. Vom Endpunkt? Wohl eher vom Jetztzustand aus, der auch nur ein Zwischenschritt dieser Entwicklung ist oder gar der Ausgangspunkt einer ganz neuen, bis jetzt noch nicht gedachten Entwicklung!
Der heutige Istzustand dürfte auch den kühnsten Vordenkern der elektronischen Informationsverarbeitung nicht in den Sinn gekommen sein, als sie sich anschickten, Visionen zu entwickeln, an denen sich die technischen Umsetzungen dann abarbeiten mussten, um plötzlich ganz neue Wege zu eröffnen. Und immer spielte sich der Fortschrittsprozess zwischen einer Anwendbarkeit, die in der Theorie keine Grenzen kennt, und den jeweiligen Grenzen der Anwendbarkeit in der Praxis ab. Ein Zustand, an dem sich nichts geändert hat, nichts ändern wird. Bislang wurde noch jeder, der meinte, ein abschliessendes Statement zum Lauf der Geschichte treffen zu können, von derselben schonungslos eines Besseren belehrt. «Ich denke, dass es einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer gibt», erklärte Thomas Watson, CEO von IBM im Jahr 1943. Und wenig später, im Jahr 1949, wagte die US-Zeitschrift Popular Mechanics folgende Prognose: «Computer der Zukunft werden nicht mehr als 1,5 Tonnen wiegen.» Eine zutreffende Aussage, die uns Spätgeborene dennoch in ihrer Naivität erheitert. Noch 1977 erklärte Ken Olson, Gründer von Digital Equipment Corporation, einem Unternehmen, das als Pionier in der Computerindustrie galt: «Es gibt keinen Grund dafür, dass jemand einen Computer zu Hause haben will.» Eine Einschätzung, die sich für diese Firma rächen sollte.
Wollen die Verlage und Medienhäuser nicht solchen Denkfehlern zum Opfer fallen, müssen sie sich mit den neuen Möglichkeiten beschäftigen und nicht nur an dem Bestehenden festhalten. Damit spätere Generationen sie nicht belächeln werden aufgrund von Aussagen wie der eines verantwortlichen Redakteurs des US-Verlages Prentice Hall, der 1957 erklärte: «Ich habe dieses Land auf und ab bereist und mit den besten Leuten geredet, und ich kann Ihnen versichern, dass Datenverarbeitung ein Tick ist, der dieses Jahr nicht überleben wird.» Die Nachwelt, die hier schmunzelt, übersieht, wie nah sie selbst am Irrtum baut, weil nicht nur innerhalb immer komplexerer Systeme, sondern auch und gerade im Zusammenspiel verschiedener Systeme beständig Neues entsteht, das aus den Eigenschaften der einzelnen Komponenten heraus nicht vorhersehbar gewesen wäre. Und wie es sich im Allgemeinen verhält, so geschieht es auch im Besonderen, in diesem Fall bei der digitalen Revolution in der Buchherstellung (die aus diesen Vorbemerkungen heraus als eine stete Umwälzung verstanden werden will!).
Digitales Publizieren bei Schwabe
An der Entwicklung und Einführung von Informationstechnologien in der Buchproduktion war Schwabe schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt beteiligt: 1975 wurde vom Schweizerischen Buchdruckerverein (dem Vorgänger des Viscom, des Verbandes für visuelle Kommunikation) eine IBM-Erstbenutzergruppe einberu- fen, der auch Schwabe angehörte. Deshalb erlaubt der Blick auf die Entwicklungs- geschichte, wie sie sich in diesem Unternehmen abgespielt hat, auch Rückschlüsse darauf, wie sie in der Branche allgemein erfahren wurde.
Wurde IT zunächst noch als administrative Hilfe verstanden, Computersysteme noch primär zum «Rechnen» verwendet, so trat die neue Technologie doch bald ihren Siegeszug durch die gesamte Produktion an. Die frühen Anwendungen fanden in den Bereichen der Finanzen, der Lohnbuchhaltung und der Auftragsnachkalkulation statt. Die Arbeitsabläufe der damals hochmodernen automatisierten Leistungserfassung und -auswertung mittels Lochkarten und Magnetbändern muten heute so an, als würde man einen Tablet-PC mit der Maus steuern und trüge dabei Boxhandschuhe.
In der Druckvorstufe, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bereits eine beachtliche Reihe von elektromechanischen und ersten elektronischen Automationsentwicklungen durchlaufen hatte (Monotype, Linotype, Diatype), hielten bald die ersten digitalen Satzsysteme Einzug (siehe Gastbeitrag auf S. 368 ff.). Die erforderliche Rechenleistung wurde zunehmend dezentralisiert, von einem raumgreifenden Zentralrechner ging die Entwicklung zu immer kleineren und autonomeren Desktopeinheiten hin. Das Desktop-Publishing mit Apple-MacIntosh-Geräten, anfangs noch belächelt, setzte sich durch und immer komfortablere Anwendersoftware, ausgefeilte Text-, Grafik- und Bildbearbeitungsprogramme kamen auf den Markt. WYSIWYG («What You See Is What You Get») setzte neue Massstäbe in der Vorstufenproduktion.
Dienten alle diese Systeme bis anhin dem Zweck, einzelne Prozesse innerhalb mehr oder weniger «geschlossener» Produktionsabläufe zu übernehmen, an deren Ende ein konventionelles «analoges» Produkt stand – eine Entwicklung, die schnell, aber weitgehend linear vonstatten ging –, so sorgte das Aufkommen des World Wide Web für eine nichtlineare Entwicklungs- explosion.
Die Zukunft des Verlegens
Der Zusammenschluss autonomer Kleingeräte zu Verbundsystemen, sowohl zu lokalen Netzwerken wie dann auch zum World Wide Web, führte letztlich wieder zu einer Zentralisierung der Datenhaltung und zum Autonomieabbau der Endgeräte, wobei die heutigen «Datenzentren» nicht lokal, sondern virtuell und dabei, so paradox es erscheinen mag, dezentral bestehen. Mit atemberaubender Geschwindigkeit haben sich für Inhalte jedweder Art neue Verbreitungswege und -formen erschlossen, und es erschliessen sich beständig weitere. Dadurch wurde der Weg für den Einsatz wiederum neuer Produktionsmittel wie Redaktions-, Content-Management- und Web2Print-Systeme geebnet. Zusammengefasst im Begriff E-Publishing führt dies auch zur Herausbildung neuer Formen des Verlegens sowie zu neuen Verlags- und Geschäftsmodellen, die sich jedoch nicht auf das Publizieren von E-Books beschränken werden. Denn nicht der einzelne Konsument steht mehr im Fokus, sondern aus der Beteiligung untereinan-der vernetzter Individuen entsteht eine Art von kollektiver Intelligenz, wie sie bereits jetzt den Erfolg des Online-Lexikons Wikipedia bestimmt oder auch von den Sozialen Medien getrieben wird. Der klassische Verleger wird hier zunehmend zum Moderator, zum Lotsen im digitalen Informationsfluss. Im Unterschied zu früheren Massenmedien werden im Web die Inhalte nicht mehr von einem Absender aus an je einzelne Empfänger verteilt, sondern stehen allen Interessierten jederzeit, orts- und terminunabhängig zur Verfügung.
Wenn nun Wissen jedem zugänglich ist und von jedem mitgestaltet werden kann, tendiert es dazu, sich exponentiell zu vermehren. Doch wo alles immer und überall verfügbar ist, braucht es auch Strukturen, um die Informationsmasse zu erschliessen, sie nutz- und brauchbar zu machen. Das klassische Modell «Verlag» hat hier noch lange nicht ausgedient. Aufgaben wie Qualitätskontrolle, Auswahl und Aufbereitung von Wissen sowie Programmgestaltung bleiben weiterhin die Kerntätigkeit der Verlage. Wo die Flut an Information unübersichtlich wird, bietet die Arbeit des Verlags Orientierungshilfe und Qualitätssiegel in einem.
25 Jahre nach Otto Stichs Rede, 525 Jahre nach der Gründung der Offizin, stellt sich nach wie vor die Frage, wie mit «geistigen Schätzen» in Zukunft umzugehen ist. Dass es diese auch in Zukunft braucht und geben wird, steht ausser Frage. Und ebenso, dass Verlagen hierbei weiterhin eine wichtige Rolle zukommt.
Der Autor Michael Düblin ist 1964 in Basel geboren und in Oberwil im Kanton Baselland aufgewachsen. Er ist Vater von zwei Kindern und seit 1999 Leiter Informatik der Schwabe AG.